“Christian Philipp Müller, ‘Touring Club,’ Kunstraum Der Universität Lüneburg” (1995)

From: Texte zur Kunst, no. 17 (February 1995): 181–184.

- Astrid Wege

Eine künstlerische Feldstudie zur aktuellen Situation der Kunstinstitutionen in der Schweiz präsentierte Christian Philipp Müller mit seinem Ausstellungsprojekt "Tonring Club" im Kunstraum der Universität Lüneburg. Im Sommer 1994 verschickte Müller einen standardisierten Fragebogen an 60 Schweizer Kulturinstitutionen, die mindestens einmal im Jahr zeitgenössische Kunst zeigen. Als "Kulturtourist" besuchte er anschließend in einer elftägigen, auf Video dokumentierten Reise durch die Schweiz diese Museen und Ausstellungshäuser und führte mit insgesamt 25 Kuratorinnen und Leiterinnen Interviews vor laufender Kamera. Ziel dieser schriftlichen wie mündlichen Befragung war, auf Grundlage der hierbei gewonnenen Daten ein Porträt der "institutionellen Kunstlandschaft" der Schweiz zu zeichnen, ein Profil der Schweizer Kunstinstitutionen, ihrer Ausstellungspraktiken und deren Prämissen. Die im Verlauf der Recherche gewonnenen Informationen und Eindrücke bildeten das Rohmaterial für die verschiedenen Versionen dieses als Ausstellungstour angelegten, d.h. bewußt mit Kontextverschiebungen arbeitenden und sich daher immer leicht verändernden Projekts: Als "Tour de Suisse" in der Kunsthalle Fri-Art in Fribourg begonnen, wurde es im Swiss Institute in New York, Müllers aktuellem Wohnsitz, fortgesetzt und wird nach Lüneburg eventuell noch eine vierte Station im "Kunstwerke e.V.", Berlin, haben. In Lüneburg gelang Müller eine zurückhaltende, sehr stimmige Inszenierung, die der Besonderheit des Ortes als Kunstraum einer Universität, d.h. seinem akademischen Umfeld, ebenso Rechnung trug wie der Größe des Ausstellungsraumes, die eine Konzentration der einzelnen Elemente erforderte. An die eher spielerische Umsetzung in Fribourg - die Schweiz war als begehbares "Spielbrett" dargestellt, so daß Müllers Reise durch die Schweiz durch den Ausstellungsbesuch quasi verdoppelt wurde - erinnerte lediglich das "Rollenspiel": In einem Regal lagen weiße Stoffhüte mit der französischen und deutschen Aufschrift "Künstler", "Kritiker", "Betrachter", "Vennittler", "Förderer", "Sammler" und "Händler". Für die Dauer des Ausstellungsbesuchs konnten die BetrachterInnen in dem "sozialen Mikrokosmos" des künstlerischen Feldes folglich eine in bezug auf ihre tatsächliche Rolle reale oder fiktive Position einnehmen. Anstelle des Spielplans war die "Kulturlandschaft Schweiz" in Lüneburg durch eine Landkarte repräsentiert, auf der die von Müller besuchten Kunsthallen und Museen mit ihren jeweiligen Gründungsdaten eingezeichnet und, je nach Sprachregion, verschiedenfarbig gekennzeichnet waren. Ein direkt gegenüber der Landkarte plazierter Arbeitstisch unterstrich den "Studiencharakter" dieser Inszenierung. In der Reihenfolge des Reiseverlaufs montiert, konnten hier nicht nur die Videointerviews mit den KuratorInnen und Direktorinnen eingesehen werden, sondern auch Hintergrundinformationen zu dem Ausstellungsprojekt selbst und Materialien zu früheren Arbeiten Christian Philipp Müllers, die formale und thematische Bezüge zu der aktuellen Arbeit aufwiesen: Müllers Führung durch Carl Theodors Garten in Düsseldorf-Hellersdorf von 1986 beispielsweise oder sein Beitrag für den Österreichischen Pavillon der Biennale in Venedig von 1993, der in ähnlicher Weise wie "Tour de Suisse" und "Touring Club" in eine "reale Reise" bzw. "Wanderung" und deren anschließender "Dokumentation" gegliedert war. Für "Touring Club" nun bestand die künstlerische Umsetzung von Müllers Reise in einem circa zweistündigen Video, "Tour de Suisse, Sketch for a Road Movie", das großflächig auf die Stirnwand projiziert wurde, so daß sich der Ausstellungsraum in den Projektionsraum zu öffnen schien. Dieser Raumeindruck wurde verstärkt durch die auf der gegenüberliegenden Wand in einer langen Reihe gehängten Videoprints der interviewten Leiterinnen und Kuratorinnen der Kunstinstitutionen, da die Kleinformatigkeit der Drucke den Raum größer wirken ließ. Die reale Bewegung der Ausstellungsbesucherinnen an den Videoprints vorbei spiegelte Müllers Reise im Video. Wie im Ausstellungstitel bereits angedeutet, skizzierte das "Road Movie" die Metamorphose des Wanderers oder Reisenden zum Kulturtouristen, wobei einige Kameraeinstellungen - der Blick von einer Anhöhe in die Ebene beispielsweise - auf Motive der Landschaftsmalerei anspielen. Durchgängig nach einem wiederkehrenden Muster strukturiert - die Autofahrt durch die verschiedenen Landschaften der Schweiz, eine Außenaufnahme, die Müller beim Betreten des jeweils aufgesuchten Museums zeigt, Innenaufnahmen beim Gang durch die Ausstellungsräume -, sieht man Müller in dem Video in legerer Freizeitkleidung zügig durch die verschiedenen Sammlungen zeitgenössischer Kunst laufen. Diese wirken durch die Choreographie der Montage austauschbar. Durch die Unmöglichkeit, einzelne Arbeiten wahrzunehmen, konzentriert sich die Aufmerksamkeit zunehmend auf die Architektur der Ausstellungsinstitutionen. In seltsamem Kontrast zu der von Müller exemplarisch vorgeführten Beiläufigkeit des Sehens stehen die seitlich vor der Videoprojektion installierten Bänke. Sie erinnern daran, daß das Museum die längste Zeit seines Bestenhens als Ort der Kontemplation m7d nicht als "Durchlaufstelle" eines flüchtigen Kunstkonsumenten gedacht war. Diesen in Müllers Video mit verstecktem Witz veranschaulichten Funktionswandel des Museums thematisiert er auch in den persönlich geführten Interviews. Wiederholt stellt er die Frage, inwieweit der 183 Druck, hohe Besucherzahlen zu erzielen, d.h. in die Logik des freien Marktes übersetzt, "effektiv" zu sein, Einfluß auf das Ausstellungsprogramm hat.[1] Eine Auswertung der in den Interviews und Fragebögen ermittelten Informationen lieferte Müller entgegen seiner ursprünglichen Planung nicht. Als Reaktion auf seine Beobachtung, daß Kunstsoziologie kein fester Bestandteil des in Lüneburg eingerichteten Studiengangs Angewandte Kulturwissenschaften ist, verlegte er die Auswertung auf die in Kooperation mit dem in Lüneburg lehrenden Soziologen Ulf Wuggenig geplante Publikation. Die Zielsetzung des Kunstraumes aufgreifend, der sich als "Forum für einen disziplinübergreifenden Dialog zwischen künstlerischen und wissenschaftlichen Gemeinschaften"[2] versteht, fokussierte Müller in Lüneburg das für seine Arbeiten charakteristische Spannungsverhältnis zwischen "subjektiven" und "objektiven" Momenten, das sich hier bereits auf der Ebene der gewählten soziologischen Verfahren widerspiegelt: So wird der standardisierte schriftliche Fragebogen mit geschlossenem Antwortformat eher den "objektivistisch" orientierten Richtungen der Soziologie zugerechnet, das offene Interview hingegen den "subjektivistischen".[3] Exemplarisch führte Müller jene Tendenz innerhalb der zeitgenössischen Kunst vor, die für ihre Untersuchungen gesellschaftlicher Strukturen und Institutionen auf wissenschaftliche Instrumente und Strategien verschiedenster Forschungsbereiche zurückgreift, wobei in Müllers aktuellem Projekt Bezüge auch zu früheren Arbeiten und Positionen dieser künstlerischen Forscher- Tradition zu entdecken sind: zu Hans Haackes Besucherprofil (1972) oder, in der Wahl der Bildausschnitte bei den Innenaufnahmen des Road Movie, auch zu Louise Lawler. Subtil veranschaulicht Müllers Inszenierung, daß auch empirisch gewonnene, "objektive" Daten Bedeutung erst innerhalb eines Interpretationsrahmens erhalten, nicht Abbild der Realität sind, sondern zu ihrer Rekonstruktion dienen. So reiht Müller die 35 zurückgesandten, noch unausgewerteten Fragebögen in alphabetischer Abfolge in 60 rasterförmig angeordnete Holzkästen ein, wo sie den Ausstellungsbesucherinnen theoretisch zwar zugänglich, durch die Höhe der Hängung zum Teil jedoch unerreichbar sind. Deutlicher noch wird bei den Aufnahmen der Museumsdirektorinnen und AusstellungskuratorInnen, daß gerade das offene Interview als eine Form des "Portraits" , die Müller durch die Videoprints bildlich aufgreift, immer auch Momente der Selbstdarstellung der Befragten beinhaltet. So wählten die meisten Museumsleiterinnen und Ausstellungskuratorinnen die Arbeitssituation ihres Büros als den Ort, an dem das Interview stattfinden sollte, während einige wenige die repräsentative Funktion ihrer Position betonten, indem sie sich vor einem Kunstwerk ihrer Sammlung befragen ließen. Durch dieses Zusammentreffen selbstinszenatorischer Momente der Interviewten und der Auswahl der Videostills durch den Künstler lenkte Müller die Aufmerksamkeit auf die Grenzlinien zwischen dem künstlerischen und dem wissenschaftlichen Feld. Die Aneignung wissenschaftlicher Verfahren in der Kunst stellt immer noch eine gewisse Herausforderung dieser Grenzen dar, sie macht deutlich, daß diese Gegenstand ständiger Auseinandersetzungen sind. Epistemologische Klarheit für das eigene Handeln zu erlangen und sich bewußt in jenem "Raum der Möglichkeiten, der das Produkt der Geschichte des eigenen Feldes"[4] ist, zu positionieren, bedeutet aber gerade, diesen und seine spezifischen Funktionsgesetze möglichst genau zu erforschen, ein Bewußtsein für existierende Grenzen zu schaffen, sie herauszufordern und partiell zu überschreiten.

Anmerkungen

  1. Vgl. hierzu auch Christian Phitipp Müllers Pariser Version seiner Arbeit "Köln-Düsseldorf' in der Ausstellung "Qui, Quoi, Ou" 1992 in Paris.

  2. Aus der Presse-Erklärung des Kunstraums der Universität Lüneburg.

  3. Vgl. Ulf Wuggenig, Künstlerische und soziologische Feldforschung, Begleitblatt zur Ausstellung.

  4. Pierre Bourdieu, Einführung in eine Soziologie des Kunstwerks, in: Ders., Die Intellektuellen und die Macht, Hamburg 1991, S.101.