"Preisgestaltung: Ein Interview mit Christian Philipp Müller von Isabelle Graw" (1992)

From: Artis 44 (March 1992): 22–27.

- Isabelle Graw

Die Ausstellungspolitik des Brüsseler «Palais des Beaux-Arts» zeichnet sich durch ein Prinzip der Dreifaltigkeit aus: Große historische Ausstellungen, Versteigerungen und die zeitgenössische Kunst, deren räumliche und finanzielle Möglichkeiten verhältnismäßig beschränkt sind. Christian Philipp Müller orientierte sich am parallelen Geschehen: Der Ausstellungskatalog entspricht dem Prototyp eines Auktionskatalogs, seine ortsspezifischen Arbeiten präsentieren sich auktionsgerecht, übriggebliebene Objekte werden im nachhinein zu künstlerischen erhoben und mit dem üblichen, «objektiv» durchkalkulierten Preis versehen, und die Präsentation seiner Arbeiten (Beleuchtung, Inszenierung der Räume, Beschriftung) nimmt die Methoden wieder auf, die nebenan bei der Ausstellung von portugiesischen Kronjuwelen zu deren ahistorischem, wertorientiertem Charakter beitragen.

Isabelle Graw: Frederik Leen spricht in dem Text, den er über deine Arbeit im «Forum International Nr. 11» geschrieben hat, von einer «Strategie der Nichtidentität». In deiner bisherigen ortsspezifischen Praxis ging es ja auch darum, das Aufkommen eines Stils zu vermeiden, diesen vom Inhalt jeweils bestimmen zu lassen. Kann man nicht trotzdem sagen, dass es eine Art Christian-Philipp-Müller-Ästhetik zumindest in den von dir konzipierten Büchern gibt?

Christian Philipp Müller: Ich glaube nicht. Ich übernehme eine Ästhetik, die für einen Platz oder für eine bestimmte Zeit spezifisch ist. Ich führe sozusagen einen neuen Inhalt ein. Nur mein Vorgehen bezeichnet vielleicht einen Stil oder eine Ästhetik, aber keine Ästhetik im engsten Sinne des Wortes, und nur die Leute, die wirklich hinter die Dinge blicken oder zwischen den Zeilen lesen, erkennen, dass die Arbeiten von derselben Person gemacht wurden. Bei meiner Brüsseler Ausstellung (im Palais des Beaux-Arts in Brüssel vom 14.2.1991 bis 19.1.1992) haben mich einige Leute gefragt, ob die Vitrine mit den Objekten denn meine Arbeit sei, ob «ich» das wäre. Ich sage dann «Ja, aber es geht nicht darum, dass ich eine Vitrine gemacht habe, sondern um die ganze Ausstellung». «Ach, das haben wir gar nicht gesehen!» heißt es dann. Und wenn ich daraufhin frage: «Habt ihr denn beachtet, dass in dieser Vitrine alles numeriert ist? Und dass die Numerierung nicht mit Nummer eins, sondern mit Nummer zwei beginnt und irgendwann aufhört und irgendwo im Saal weitergeht?», dann stellt sich heraus, dass die Leute so weit nicht geschaut haben.

Graw: Du beschreibst gerade eine ganz typische Reaktion des Betrachters. In der Brüsseler Ausstellung gibt es nichts, woran man sich festhalten könnte. Jedes Objekt ist numeriert und verweist auf den Katalog, der zu einer Herkunftsgeschichte führt, die wiederum eine Berechnung erklärt, die den Wert des Objekts konstituiert. Diese Strategie der Zirkularität heißt nichts anderes, als dass Bedeutung nicht definitiv aufkommt und in dem Moment steckt, der vom Objekt wegführt. Du gibst dem Betrachter aber dennoch die Möglichkeit, «normale» Rezeption am Gegenstand zu betreiben. Zum Beispiel mit dem von dir erstmals gemalten Bild «Zwei wichtige Daten in meinem Leben» -- dein Geburtsdatum in Stil On Kawaras und daneben das braune Bild mit dem Fadenkreuz, wo Dein Todesdatum einzutragen wäre. Wolltest Du einer unmittelbaren Wahrnehmung mit diesem Bild eine Chance geben? Kann es einfach nur als Malerei rezipiert werden?

Müller: Das ist völlig in Ordnung, wenn jemand nur das Bild sieht. Es ist eine Idee der Ausstellung, dass auch nur eine Vitrine gesehen werden kann, die auf den belgischen Hang zu kleinen Objekten in intimen Holzvitrinen und gelblich dunklem Licht verweist. Während im anderen Saal ein sehr helles kaltes Galerienlicht herrscht. Dort hängen zwei Bilder, die auch als Bilder angeschaut werden können und mit einer Bildlegende an der Wand versehen wurden. Wenn man will, kann man tiefer gehen und Bedeutungen erschließen, aber man muss nicht um Gottes Willen.

Graw: Der Kunsthistoriker Gregor Stemmriech spricht in seinem Artikel «reconstructing literalism» (Texte zur Kunst nr. 5) von einer ganz bestimmten Art der Kunst, mit Betrachtung umzugehen, und sagt sinngemäß: «Indem jede nur denkbare Einstellung des Rezipienten dem Werk gegenüber zur Fragestellung erhoben wird, lenkt die Arbeit die Aufmerksamkeit auf die Problematik eines möglicherweise fraglosen Gebrauchs seiner selbst, ohne sich diesem entziehen zu können.» Ganz ähnlich sagst du, dass es möglich ist, deine Bilder als Bilder zu rezipieren.

Müller: Mich interessiert aber eigentlich mehr die Frage, warum man Bilder malt, ob das eine Technik ist, die man beherrscht, oder ob das Bild -- wie in meinem Fall -- als Übergang gemalt ist.

Graw: Als Übergang wozu?

Müller: Dieses Bild wurde als Entwurf für das Titelblatt einer Zeitschrift gemalt. Ich wurde gebeten, mir etwas zu On Kawara zu überlegen, was ich zuerst als eine unerhörte Frechheit empfand. Dann aber habe ich gedacht, dass dies vielleicht von jemandem vorgeschlagen worden ist, der meine Arbeit kennt und sich vorstellt, dass ich grundsätzlich die Arbeiten anderer Leute kommentiere. Die zwei Bilder weisen auch auf die Wertproblematik hin insofern, als ich als Künstler für die Titelblattgestaltung einer Zeitschrift nicht bezahlt werde, als Grafiker aber schon honoriert wurde. Hätte ich diesen Entwurf auf Papier gemacht -- eine sogenannte Reinzeichnung --, dann wäre er fast wertlos, außer ich würde ihn wieder zur Kunst erklären. Aber wie man in dem Katalog-Interview mit Rudolf Zwirner nachlesen kann, ist ja ebendiese Verwendung von teuren Keilrahmen, sehr guter Leinwand und sündteurer amerikanischer Acrylfarbe sehr wichtig, und deshalb kann ich auch einen hohen Preis, der im Vergleich zu On Kawara sehr bescheiden ist, verlangen, weil nicht auf eine Pappe mit Plakatfarbe gemalt wurde.

Graw: Du hast die Willkürlichkeit thematisiert, mit der etwas als wertvoll oder wertlos bezeichnet wird. Auch hast Du die angebliche Wertlosigkeit Deiner früheren Aktionen (wie z. B. die Führungen in Carl Theodors Garten in Düsseldorf-Hellerhof oder durch die ehemalige Kurfürstliche Gemäldegalerie in der Düsseldorfer Akademie) kompensiert, indem du die Wertbildung deiner Arbeit selbst in die Hand genommen hast. Kann man das so sagen?

Müller: Ja, absolut. Wenn ich versuche, bestimmte romantische oder sentimentale Relikte von ortsspezifischen Arbeiten in einer Vitrine zusammenzustellen, dann kann ich natürlich niemals den hohen Wert kreieren, der den Kosten meiner ortsspezifischen Projekte entspricht. Es geht nicht darum, dass ich jetzt aus meinen Ausstellungen in St-Etienne (1989) oder aus den Düsseldorfer Aktionen versuche, nachträglich Wert herauszuschlagen. Natürlich kann ich den historischen Wert dadurch erhöhen, dass ich die Arbeit in einer anderen Form nochmals zeige und von mir reden mache. Ich weiß, dass ich dadurch wieder Wasser auf meine Mühle leite.

Graw: Du zeigst, dass sich Wert aus den Beziehungen ergibt, die eine Ware mit den Produzenten und den potentiellen Käufern unterhält. Du machst deutlich, dass du als Künstler den Wert deiner Arbeit mit beschließt, durch die Art und Weise, wie du sie präsentierst und behandelst.

Müller: Absolut. Und ein Künstler, der sagt, dass er das nicht will, und sich dessen nicht bewusst ist, ist einfach hoffnungslos naiv und tut mir nur leid. Wertbildungen lassen sich bis zu einem gewissen Punkt steuern, z. B. durch die Technik oder das Medium, für das man sich entscheidet. Das habe ich in Brüssel zu thematisieren versucht, indem ich jedes mögliche Medium verwendete, aber nur zitatweise. Kleine Objekte wurden in einer Vitrine versammelt, es gab eine Videoarbeit, Bilder als Bilder, eine Rauminstallation, die gleichzeitig auch eine Bodenarbeit war, und eine Papierarbeit, sozusagen «Works on Paper.» Wobei es sich bei der Papierarbeit um eine räumliche Arbeit handelte, eine Papierrolle als sich vordrängender Hintergrund, der keinen Sockel braucht.

Graw: Gibt es hier eine Parallele zu der weitverbreiteten Methode, Arbeiten im nachhinein zu datieren und zu betiteln? In der Beuys-Ausstellung in Düsseldorf hingen seine ganz frühen Zeichnungen, die er in einem Rutsch mit Passepartouts versehen und beschriftet und datiert hat. Würdest du dich mit solchen Vorgehensweisen in eine Verbindung setzen?

Müller: Ich sehe da schon eine Parallele. Beuys kannte den großen Unterschied zwischen einer losen Papierarbeit und einer entsprechend wertvoll gerahmten Arbeit. Mir kann niemand sagen, dass es nur um den künstlerischen Wert der Arbeit gehe.

Graw: Hast du dich bei der Preisbildung des Videos («Begrüßung durch den König», 1988) an gängige Auktionsschätzungen gehalten? Wie sind die in deinem Katalog genau aufgeführten Preise zustande gekommen?

Müller: Für die Berechnung des Videos, das keine Edition ist und nur einmal existiert, habe ich Ausstellungskataloge konsultiert. Ein Teil meiner Ausstellungsfläche wurde nämlich witzigerweise in den 70ern und Anfang der 80er Jahre als Videoraum benutzt. Da bin ich auf Preise amerikanischer und europäischer Künstler gestoßen, deren Videoeditionen schon damals über 1000 Mark gekostet haben pro Band.· Mit meinen 4000 Mark für eine Einzelarbeit finde ich mich bescheiden und sehr korrekt. Und für meine anderen Arbeiten, den Uniformhut und die Schuhe beispielsweise, habe ich mich strikt an die Preise gehalten, die die Schätzpreise der Brüsseler Auktionen sind. Wobei es wiederum einen großen Unterschied gibt zwischen dem Wert der einzelnen Objekte und der Gesamtsumme der vereinigten Objekte in der Vitrine.

Graw: Für das Vitrinenarrangement bezahlt man mehr als für die Summe der Preise der einzelnen Objekte, weil das Ganze einen imaginären Wert darstellt.

Müller: Ja.

Graw: Und wie hast du den Preis des Bildes berechnet?

Müller: Den habe ich mit meinem Galeristen, Christian Nagel, berechnet: Höhe mal Breite, leider nicht mal Dicke. Das müsste man vielleicht noch einführen, weil die On-Kawara-Bilder vier Zentimeter dick sind. Und dann hat mir Christian Nagel erklärt, wer mit welchem Faktor multipliziert wird.

Graw: Und du musstest mit einem niedrigen Faktor arbeiten.

Müller: Genau, weil es bei mir für Bilder keinen Erfahrungswert gibt. Christian hat «fünf» vorgeschlagen, mir Beispiele von Künstlern gegeben, deren Faktor er kennt. Im Vergleich dazu bin ich extrem bescheiden, obwohl nicht anfängermäßig eingestuft.

Graw: Du musst mir auch noch erklären, wie sich das Volumen der Plexiglashauben kalkuliert, in bezug auf die jeweiligen Kulturetats, deren Repräsentation sie sind, und warum diese Plexisglashauben aufgeschichtet präsentiert wurden. Wie berechnen sich ihre im Katalog auf den Pfennig genau genannten Preise?

Müller: Es geht darum, dass ich 1990 die Ausstellung «Köln Düsseldorf» in Köln gemacht habe, in der ein Vergleich der Kulturbudgets von zwei ähnlich großen, kulturell rivalisierenden Städten, die beide am Rhein liegen, vorgenommen wurde. Dafür gibt es den gebräuchlichen Darstellungsstil einer Computergrafik, die man jeden Tag in Zeitungen oder Zeitschriften sehen kann und die ich für die Kulturbudgets der Jahre 1967 bis 1989 hergestellt habe. Für das Jahr 1990 habe ich versucht, die Grafik räumlich zu machen und auf den Ort der Galerie Nagel zu beziehen, deren Raumhöhe ausschlaggebend war. Die größte Summe musste ich in der Deckenhöhe der Galerie noch unterbringen, wie auf einer Zeitungsseite oder auf einem Din-A4-Blatt. Ich wollte die Galerie mit diesen Grafiken füllen, sie physisch erlebbar machen und mit Hilfe der aufgehängten, an der Wand ersichtlichen Grafiken der letzten 23 Jahre verständlich machen, worum es ging. Düsseldorf und Köln spielen aber für Belgien eine sehr untergeordnete Rolle. So entstand für Brüssel die Idee, die Glashauben wie im Materiallager zu präsentieren. Formal gesehen, kann ich dadurch den Materialwert betonen und nicht mehr die Geldvolumen oder eine eindimensionale Grafik oder Statistik. Jetzt sind es einfach Platten, die zeigen, dass ich mit dieser Arbeit auf Tournee gehe und sie nicht aufbaue. Normalerweise stellt man eine Plastik auf einen Sockel und richtet ein paar Spots darauf. Ich präsentiere die Arbeit wie im Depot und spiele auf bestimmte Ausstellungspraktiken von Düsseldorfer Künstlern an.

Graw: Dass es dir um den imaginären Wert des Materials geht, machst du auch durch die Beleuchtung deutlich.

Müller: Auch dadurch, dass ich in einer von Marcel Broodthaers verwendeten Vitrine wertlose Gegenstände versammle, wird die Wertkonstitutierung durch Vitrine oder Beleuchtung klar. Broodthaers hat diese Brüsseler Vitrine verwendet, weil er öfters in Brüssel ausgestellt hat, und zwar in demselben Palais des Beaux-Arts, das mich eingeladen hatte. Ich wollte an den Ort anknüpfen und an die kunstgeschichtliche Referenz Broodthaers. Broodthaers ist ja später dauernd zu diesen speziellen Vitrinen in Beziehung gesetzt worden. Selbst das Jeu de Paume Museum in Paris hat diese Vitrinen für die Broodthaers-Retrospektive ausgeliehen, weil gedacht wurde, dass Broodthaers Arbeiten ohne diese Vitrinen nicht verstanden werden könnten.

Graw: Weil diese Vitrinen mythischen Wert verleihen.

Müller: Ich habe deshalb auch zerlegte Vitrinen als Material gezeigt, die so beleuchtet sind wie die von identischen Glassockeln geschützten Kronjuwelen der großen Barockausstellung, die parallel zu meiner Ausstellung im Palais des Beaux-Arts stattfand.

Graw: Durch die Numerierung dieser aufgeschichteten Platten und den Verweis auf den Katalog wird klar, dass es sich um Platten handelt, die auf ein Volumen verweisen, welches im Katalog abgebildet ist und das Kulturbudget der Städte Düsseldorf und Köln darstellt. Der Katalog funktioniert wie ein Auktionskatalog und ist eine notwendige Informationsbegleitung für den Betrachter.

Müller: Ja, aber erst in zweiter Linie. Das ist wie in der Auktion. Man schaut zuerst das Objekt an, dann gibt's eine Nummer, eine Beschriftung, und die erste Hürde ist genommen. Man findet einen Zugang zum Objekt. Daraufhin kann man die Nummer nachschlagen und herausfinden, was es ist, wo es herkommt und was es kostet. Oder wie es eingeschätzt ist, um es präziser auszudrücken.

Graw: Gleichzeitig funktionieren Helmut Draxler, Fareed Armaly und auch ich im Katalog als das, was Bourdieu «soziales Kapital» nennt: Soziale Verbindungen sind ein «Multiplikator» des persönlichen Werts. Der Katalog thematisiert die Wertsteigerung, welche deine Arbeit durch uns erfährt. Versuchst du diese Prozesse zu brechen, indem du sie thematisierst?

Müller: Das wird sich bei der nächsten Ausstellung zeigen. Wenn diese theoretische Versteigerung Geschichte geworden und ad acta gelegt worden ist. Genauso wie jetzt auf mein Konto gebucht werden kann, dass ihr alle geschrieben habt, geht mein Name auf lange Sicht auf euer Konto, weil ich auch wieder einen Wert für z. B. Helmut Draxler darstelle. So wie ich ihn um etwas bitte, erweise ich ihm einen anderen Dienst. Auch mit dir ist es eine Austauschbeziehung. Jeder kann von jedem profitieren, und das sagen wir auch. Aber es ist ja nicht so, dass wir jetzt diesen Zirkel schließen wollen. Wir führen diesen Prozess exemplarisch vor.

Graw: Wo ist denn da der Unterschied zu ganz normalen Institutionalisierungsprozessen?

Müller: Ich glaube, es kann sich nur mit der Zeit erweisen, wer in welche Fallen gelaufen ist und wer seine Pfötchen wieder davon befreien konnte. Zum jetzigen Zeitpunkt kann man das noch nicht sagen, weil auch wir ja momentan dasselbe betreiben. Du machst ein Interview mit mir, das in einer Zeitschrift abgedruckt wird. Das Ganze ist ja auch nichts anderes als eine verkappte Publicity, eine x-seitige Anzeige, ein Wert.

Graw: Zum Thema «Interview als Wert» habe ich noch ein Zitat von Bourdieu: «Wenn wir sprechen, erzeugen wir ein Produkt, ein Produkt, das in gewisser Hinsicht ein Produkt wie alle anderen ist, das heißt nicht nur Gegenstand einer Interpretation, sondern auch Gegenstand einer Bewertung, einer Schätzung.»

Müller: Das ist goldrichtig.

Graw: War es für dich wichtig, deine eigene Retrospektive in die Hand zu nehmen und damit zu zeigen, um was für willkürliche Setzungen es bei der Setzung von Geschichte geht?

Müller: Ich würde es nicht als Retrospektive bezeichnen, sondern als Thematisierung der Problematik von Ortsspezifität: Was mache ich mit einer Arbeit, die für einen speziellen Ort entworfen wurde und einen sehr engen Bezug auf eine bestimmte Situation genommen hat. Hat diese Arbeit noch irgendeinen Wert, oder gibt es noch irgendeinen Sinn, sie woanders zu zeigen? Ich habe ja keine klassischen Objekte, die ich jetzt anlässlich einer Retrospektive zeigen könnte. Ich musste erst Gegenstände herstellen, um überhaupt etwas zeigen zu können. Ich habe ja keine Filmabende gemacht, wo ich Videos oder Fotos der Führungen gezeigt hätte.

Graw: Die Dinge, die du gezeigt hast, waren ja im Grunde genommen wertlose Nebenprodukte von bestimmten Interventionen, die zu der Zeit keinerlei Bedeutung hatten.

Müller: Das, was übrigblieb, die nicht verkauften Eintrittskarten der Führung zum Beispiel.

Graw: Oder die in Münster (1987 für den Film des belgischen Fernsehens über die Ausstellung «Skulptur Projekte») getragenen Schuhe.

Müller: Im Prinzip handelt es sich auch um eine Art Aufräumaktion. Ich habe starke Probleme damit, etwas zu produzieren und es dann in ein Depot zu stellen. Ich möchte mich von allem befreien. Wenn ich etwas mache, dann soll es ganz schnell entweder verschwinden oder bei einem Sammler landen, damit ich nicht mit dem Material meiner eigenen Produktion belastet werde.

Graw: Verfolgst du den Verbleib deiner Arbeiten, wo sie landen und in welcher Form?

Müller: Nein - ich habe keinen direkten Zugriff darauf, was der Sammler damit macht. Die Vitrine ist jetzt zum Beispiel verkauft. Aber ich habe von Anfang an gesagt, dass ich nicht die Vitrine als Objekt mache, sondern dass es mir um die Anhäufung von Objekten geht, die eine möglichst gängige Präsentationsform brauchen. Die Objekte sind die Arbeit und nicht die Vitrine. Nun ist der Sammler natürlich in die Falle getappt und will die abgeschabte Vitrine haben, weil sie ein romantisches Element darstellt.

Graw: Und was passiert jetzt?

Müller: Jetzt wird verhandelt. Ich finde es auch schön, dass der Sammler das von ihm Gesehene und nicht das von mir Beabsichtigte kauft. Indem ich etwas zum Verkauf freigebe, schneide ich die Nabelschnur durch und kann nur beschränkt kontrollieren.

Graw: Diese Sammlergeschichte ist ein gutes Beispiel dafür, wie der von dir kritisch thematisierte Rahmen -- die Broodthaers-Vitrine -- als integraler Bestandteil rezipiert wird. Eine Metapher dafür, was mit Kritik oder selbstreflexiver Praxis passiert.

Müller: Die Crux ist eben, dass man diesen Ausgang von vornherein kennt. Genauso wie wir jetzt darüber reden, dass wir uns über den Wert eines Interviews oder eines kritischen Textes bewusst sind. Es wäre schön, wenn man so gescheit wäre, dass man gleich eingreifen könnte. Die Bewusstwerdung ist ein eigener Schritt, und vielleicht sind wir irgendwann so klug, dass wir mehr machen können, als nur festzustellen.